Berlin geht baden (7): Ganz ohne Tuch ins Becken
Seit 1925 können die Mitglieder eines Berliner FKK-Vereins dort unbekleidet schwimmen und Sport treiben. Aber wie zeitgemäß ist Nacktsein heute noch?

Eine grüne Oase mitten in der Stadt. Die Vögel zwitschern, an den Bäumen baumeln selbstgebastelte CDs, die die Sonne reflektieren. Der Park ist mit Engelchen- und Erdmännchen-Figuren aus Stein bestückt. Auf einem Zaun prangt das Logo des Vereins für Körperkultur Berlin-Südwest (VfK): Eine gelbe Sonne geht darin auf blauem Untergrund auf, es erinnert an die Optik der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Das passt für einen FKK-Verein. Obwohl die Freikörperkulturbewegung noch viel früher entstand, war FKK vor allem in der DDR ein Massenphänomen.
Der Verein für Körperkultur Berlin-Südwest (VfK) versteckt sich hinter einem großen Möbelkaufhaus am Ostpreußendamm, der Hauptverkehrsachse von Lichterfelde-Süd. Dem Wetter entsprechend sind die Sonnenschirme auf der Terrasse vor dem ebenfalls gelb-blauen Vereinshaus geschlossen. Die Plastikstühle sind gegen die Tische gekippt.
„Im Schwimmbecken ist Nacktsein ein Muss“, sagt Thomas Hartmann, als er an einem regnerischen Sommertag über das Vereinsgelände führt. Der Glatzkopf im braun-roten Blümchenhemd stammt aus dem fränkischen Erlangen, seit 20 Jahren ist er hier Vereinsmitglied, seit einigen Jahren auch Vereinsvorsitzender.
Hartmann steuert über eine weitläufige, sattgrüne Wiese auf den Pool zu, in dem eine nackte Frau ungestört ihre Bahnen zieht. „Es ist sehr vertrauensvoll und sehr kuschelig“, beschreibt er seinen Verein. Jedes Mitglied habe einen Schlüssel, Eingangskontrollen gebe es nicht, man kennt sich, man grüßt sich. Selbst an sonnigen Tagen könne man die Zahl der Menschen auf der Wiese vor dem Schwimmbad „fast an einer Hand abzählen“, sagt Hartmann.
Sport auch angezogen
1.100 Mitglieder hat der im Jahr 1925 gegründete VfK. Eine bunte Mischung, so der Vereinsvorsitzende: Junge und alte Menschen, Frauen und Männer, People of Colour und weiße Menschen. Seit 1985 gibt es das Schwimmbad. Es gibt Volleyball-, Gymnastik, Zumba- und Tischtenniskurse. Muss das alles nackt geschehen? „Die meisten machen angezogen Sport, man kann ihn aber auch nackt machen“, sagt Hartmann. „Das obliegt den Leuten.“
Viele der Mitglieder seien nicht die „klassischen, überzeugten FKKler“ – ganz im Gegensatz zu früher. Seit dem 100-jährigen Bestehen hat sich nicht nur das Vereinsangebot verändert, sondern auch das FKK-Selbstverständnis. „Früher war alles FKK. Da gab’s überhaupt keine Diskussion“, sagt Hartmann. Es gebe noch Fotos von der Zeit, in der Vereinsmitglieder mit Wohnwägen auf dem gepachteten Gelände wohnten, nackt am Lagerfeuer saßen und selbst die Jahreshauptversammlungen nackt durchgeführt wurden. Heute sei das anders. „Wir müssen diskutieren, wie ernst wir die FKK-Geschichte nehmen und wie wir die Tradition erhalten.“
FKK-Kultur hat in Deutschland eine lange Geschichte. Ihre Ursprünge liegen in der Lebensreformbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts, die Kritik an der Industrialisierung und dem Materialismus äußerte und einen Rückbezug zu einem vermeintlichen Naturzustand anstrebte. Seit den 1920er Jahren entstanden erste Vereine, die Freikörperkultur nicht nur als Freizeitgestaltung, sondern auch als Ausdruck von Selbstbestimmung, Gleichheit und Nähe zur Natur verstanden. In der DDR wurde FKK besonders populär: Seen, Badestellen und Vereine mit Nacktheitsgebot waren weit verbreitet.
„Der Ursprung war eine politische Bewegung, bei der die Leute angefangen haben, sich zu entdecken“, erklärt Hartmann, während er durch den Wald zu den Sportplätzen führt. „Man muss nichts Schickes anhaben, es geht um die Menschen.“ Er räumt jedoch lachend ein: „Aber den Tratsch hast du genau wie bei den Angezogenen.“
Weniger naturverbunden
In den letzten zehn Jahren habe er beobachtet, dass die Naturverbundenheit, die am Anfang als Gegenentwurf zum urbanen Leben hochgehalten wurde, zunehmend verloren gegangen sei, sagt Hartmann. Als Gründe dafür sieht er veränderte Erziehung, Medien, aber auch konservative politische und gesellschaftliche Entwicklungen.
Die spiegeln sich auch im VfK: „Es gab viele Diskussionen, gerade Jugendliche haben in der Pubertät Schwierigkeiten mit dem Nacktsein.“ Verstärkt werde diese typisch pubertäre Scham durch die Sorge, dass andere Fotos von einem machen und die in der Schule herumzeigen könnten.
„Der Großteil sagt: Wir sind ein FKK-Verein, wir wollen nicht darüber diskutieren. Nach dem Motto: Du brauchst auch nicht in einen Fußballverein eintreten, wenn du Basketball spielen willst.“ Aber auf die Kinder und Jugendlichen hätten sie nun Rücksicht genommen. „Wir haben uns auf einen Kompromiss geeinigt: Auf der Wiese dürfen Jugendliche in der Pubertät Bikini oder Badehose tragen.“ Auf der Terrasse säßen manche nackt, manche nicht, manche halbnackt mit Tuch. „Das ist alles okay.“
Eine bundesweite Umfrage des Instituts YouGov und Statista aus dem Jahr 2021 ergab, dass sich 36 Prozent der Deutschen an Orten, an denen man nackt ist, eher unwohl fühlen, nur 28 Prozent fühlen sich wohl. Besonders betroffen sind Frauen. 39 Prozent haben ungute Gefühle, im Vergleich zu 34 Prozent der Männer. Auch meiden Frauen diese Orte deutlich häufiger.
Zwischen Ängsten und Empowerment
Das bestätigt Lisa Wiese: „Ich würde mich nicht nackt ins Prinzenbad legen“, sagt sie. Wiese ist Mitinitiatorin des Naked Nature Day, der in diesem Jahr erstmals in Eberswalde stattfand. „Viele Frauen haben Angst, sich nackt zu zeigen, nicht zuletzt, weil sehr, sehr viele Frauen bereits Übergriffigkeit von Männern erlebt haben“, sagt Wiese. Gleichzeitig betont sie: „Das Nacktsein kann aber auch voll empowern.“
Deshalb bietet sie es zunächst in einem geschützten Rahmen an. Beim Naked Nature Day kommen acht Flinta* für einen Tag zusammen, machen Achtsamkeitsübungen und Tee-Blindverkostungen, um sich mit Pflanzen zu verbinden. Hier wird die Naturverbundenheit der FKK-Kultur also noch gelebt.
„Es geht viel darum, zu erkennen, dass wir Teil der Natur sind“, sagt Wiese. Es gehe aber auch um Körperscham und die Frage: Was macht es mit mir, nackt zu sein? „Denn als Frauen werden wir viel bewertet, wie wir sind – und hier dürfen wir so sein, wie wir wollen. Das kann für viele Frauen sehr heilsam sein“, sagt Wiese.
Im Pool des FKK-Vereins beendet die nackte Schwimmerin nun ihre Bahnen. An der Schwimmbadtreppe steigt sie aus dem Wasser. Seit Dezember 2023 ist es Frauen in Berlin erlaubt, auch in öffentlichen Bädern oberkörperfrei zu schwimmen. Das hatte das Landgericht in zweiter Instanz entschieden. Grundlage war eine Klage einer Frau aus dem Sommer 2021: Sie war vom Wasserspielplatz „Plansche“ in Treptow-Köpenick verwiesen worden, weil sie sich dort mit nackter Brust gesonnt hatte.
Kaum Frauen ohne Oberteil
Und trotzdem: Ganz ohne Oberteil schwimmen oder sonnen sich nur die wenigsten Frauen. Warum? „Einen entspannten Tag hast du sicher nicht. Nackt ins Berliner Freibad zu gehen, bedeutet oft, Diskussionen zu riskieren“, sagt Hartmann.
Er selbst hätte es gern anders. „Natürlich würde ich mir wünschen, dass Frauen sich oberkörperfrei ins Freibad legen können, aber in der Umsetzung ist das schwierig.“ Die immer wiederkehrende „Oben ohne“-Diskussion sei eben kontrovers. „Diese Diskussion wird uns noch lange begleiten und bewegen in unserer tollen bunten Stadt“, prophezeit er.
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